Während wir ungläubig und hilflos dem grausamen Kriegsgeschehen in der Ukraine folgen, zeichnet sich die nächste, globale Katastrophe ab: Explodierende Energie und Rohstoffpreise treffen auf reduzierte Produktion von Weizen, Mais und Ölfrüchten, Klimakapriolen noch nicht einberechnet. Das könnte zu einer globalen, regional katastrophalen Ernährungskrise führen.
Dass Energie- und Lebensmittelpreise sich seit Jahrzehnten praktisch parallel entwickeln, gehört zu den Geißeln nachhaltiger globaler Hungerbekämpfung. Nach einem Jahrzehnt der relativen Ruhe auf dem Rohstoffmarkt könnte dies in diesem Jahr zu Hunger und Preisexplosionen bei Brot führen. Zu den Zutaten des „perfect storm“, der sich abzeichnet, gehört zudem die Vervielfachung der Preise für künstlichen Stickstoffdünger, dessen wichtigste Zutat Gas ist, sowie der trotz seiner nachweislichen Klimaschädlichkeit nun wieder allenthalben als Alternative zu Putins Gas und Öl geforderte Ausbau von Biogas und Biosprit.
Rollback in Putins Schatten?
Gefordert werden von Agrarfunktionären und ihren Parteigängern in einem fast unkontrollierten Ausbruch von Ressentiments gegen das „ganze Ökogedöns“ unter anderem Subventionen für Dünger und Diesel, die Rücknahme von Umweltmaßnahmen und eine Einschränkung des Ökolandbaus. Die Farm to Fork Strategie der EU für eine gemäßigte Ernährungswende, die Klimaanpassung der industriellen Landwirtschaft, die vermaledeite Düngeverordnung, der aktuell anstehende Einstieg der EU in den Ausstieg aus der Pestizidwirtschaft, die Kompromisse der Zukunftskommission Landwirtschaft, die Empfehlungen zum Umbau der Tierhaltung, all das, so hoffen einige ewig Gestrige, könnte dank Putins Krieg jetzt einfach wieder vom Tisch gewischt, zumindest auf St. Nimmerleinstage verschoben werden. Denn jetzt sei der Nährstand gefordert, seinen Beitrag zur Sicherheit in Europa durch forcierte Überproduktion zu leisten. Das erinnert ein wenig an jene Mercedesfahrer, die sich hinter dem Krankenwagen durch die Notfallgasse zu mogeln versuchen.
Was in dieser Legende gerne verschwiegen wird: Weniger als 50% der Getreideernte werden weltweit noch als Lebensmittel genutzt. Schon eine moderate Umwidmung könnte also drohenden Hunger verhindern. Eine Steigerung der Produktion um jeden ökologischen und politischen Preis ist weder sinnvoll noch geboten.
Was Not tut ist vielmehr eine beschleunigte und substantielle Reduktion des Getreideverbrauchs in der Fleischindustrie und Agrarenergie zugunsten der Produktion von Lebensmitteln; nicht nur für den eigenen, ohnehin übersättigten Bedarf, sondern vor allem auch für den von Kairo, Beirut und vielen importabhängigen Metropolen und Ländern des Südens.
Weizen als Waffe?
Hunger und Brot als Waffe in der neuen globalen Konfrontation? Die EU und vor allem die G7 als wichtigste Exportländer können dies verhindern, müssen dafür aber möglicherweise kurzfristig zu direkten Interventionen greifen, einschließlich der Mobilisierung von Reserven zur Überbrückung bis zur kommenden Ernte. Das Problem ist nicht die absolute Knappheit an Weizen. Doch der unkontrollierte Preis, die „freie“ Konkurrenz zwischen Tank, Trog und Teller auf dem Weltmarkt und die Spekulation damit kann für zig Millionen Familien den Unterschied zwischen Armut und Elend, zwischen Mindestversorgung und bedrohlicher Unterernährung bedeuten.
Für einen grossen Teil der über 800 Millionen Hungernden auf der Welt, die auf dem Lande zum Opfer von Bürgerkriegen, Vertreibung und Verfolgung wurden, sind die Weltmarktpreise höchstens dann entscheidend, wenn sie die Fähigkeit des World Food Programm der UN beeinträchtigen, ausreichende Mengen zur Nothilfe einzukaufen. Doch für all jene, die in den Slums und Arbeitervierteln südlicher Metropolen mit ihrem geringen Einkommen gerade mal die Ernährung der Familie sichern, sind die Ausschläge an den Weizenbörsen von Chicago, Paris und Wien entscheidend. Welche soziale, politische und migratorische Sprengkraft in der fatalen Verbindung von Energie- und Lebensmittelpreisen steckt, haben die Krisen von 2008 und 2011 bewiesen.
Ob sowohl die importierenden als auch die exportierenden Staaten hieraus wirklich gelernt haben, wird sich in diesem Jahr zeigen; auch, welche Rolle die Welternährungsorganisation FAO unter der neuen chinesischer Führung, dabei spielt. Das World Food Program ist bisher einer der besten Kunden der Ukraine.
Der mögliche Ausfall ukrainischer Exporte darf nun auf keinen Fall zu einer zusätzlichen Abhängigkeit von importabhängigen Nationen im Nahen Osten, allen voran Ägypten, aber auch Indonesien, der Türkei, Algerien, Philippinen und Bangladesch von russischem Getreide führen! Die USA, Kanada, Australien und die EU können dies verhindern, indem sie gemeinsam die Automatismen ihrer eigenen Märkte kontrollieren.
Bewährungsprobe für die Agrarwende
Wenn Deutschland hier die ihm zusammen mit Frankreich zukommende Führungsrolle innerhalb der EU und auch die Präsidentschaft der G7 richtig wahrnimmt, könnte die im Angesicht der Barbarei erstarkte demokratische Wertegemeinschaft beweisen, dass sie endlich auch das Recht auf ausreichende und gesunde Nahrung als ein unveräußerliches Menschenrecht und Fundament demokratischer Selbstbestimmung achtet und global zu verteidigen bereit ist. Ein Recht auf Nackensteaks zum Schleuderpreis und Biodiesel gibt es dagegen ebenso wenig wie auf den Export von Schweineohren auf den chinesischen Markt, die mit russischem Gas gedüngt und mit Futterweizen gemästet werden egal wo deshalb die Brotpreise in Kairo stehen.
Sowohl beim Kampf gegen den Hunger als auch beim nachhaltigen Umbau der Landwirtschaft in Europa spitzt sich durch diesen entsetzlichen Krieg Vieles sehr viel schneller zu als manche erwartet haben. Wichtige Entscheidungen fallen bereits in den nächsten Wochen bei der Aussaat. Wie wird sie in der Ukraine, wie in Russland machbar sein und ausfallen? Wie reagiert die Landwirtschaft in der EU? Steigert sie ihren Lebensmittel-Anbau auf Kosten billiger Agrarrohstoffe oder zieht sie in eine martialische Produktionsschlacht zur Rettung des industriellen Agrarwahns? Wird sie mehr vom Falschen oder schneller das Richtige tun?
In Deutschland wird sich zeigen, ob die im Kompromiss zwischen Bauernverband und Umweltschutzorganisationen erzielten Bekenntnisse der Zukunftskommission Landwirtschaft Lippenbekenntnisse waren oder sich jetzt tatsächlich als Grundlage eines beschleunigten Umbaus bewähren. Cem Özdemir fand in den letzten Tagen dazu die richtigen Worte. Jetzt muss die Allianz der „Wir haben es satt“ Verbände und Organisationen ihm entschlossen den Rücken stärken.
Aktivitäten & updates
Die Aktion Agrar hat einer erste Unterschriften-Aktion zu diesem Thema gestartet. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Wir halten Sie darüber auf dem Laufenden.
Vorschläge und Fragen von unserem EU Agrar Thinktank ARC2020 (auf Englisch)
Der Vorschlag, noch mehr Ackerland unter den Pflug zu nehmen, um Pflanzen für Biokraftstoffe und intensive Tierhaltung anzubauen, ist absurd und würde Ökosystemzusammenbrüche, die größte Bedrohung für die sozial-ökologische Stabilität und Ernährungssicherheit, gefährlich befördern. aus einem offener Brief von 50 europäischen Umwelt-, Gesundheits-, Forschungs-, Agrar- und Verbraucher-Organisationen an die EU Kommission
Der Umwelt- und Konsumjournalist Florian Schwinn hat einen ausführlichen Hintergrundbericht zum “Krieg im Kornfeld” veröffentlicht.