Der Welternährungstag am 16. Oktober ist ein alljährliches Ritual, bei dem Entwicklungs- und Ernährungsorganisationen weltweit den traurigen Stand der Unterernährung beklagen. Seit Jahren steigt die Zahl der Hungernden, in diesem Jahr dank COVID besonders dramatisch. Mindestens 811 Millionen Menschen hungern weltweit. „Hunger ist Mord“ schreibt der scheidende Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zum diesjährigen Welternährungstag; denn wir hätten ihn längst beenden können.
Das ist nicht neu: Der Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler prägte diesen Satz bereits vor zehn Jahren am Ende seiner Amtszeit. Müller hatte zu seinem Amtsantritt 2014 eine milliardenschwere „Sonderinitiative Eine Welt ohne Hunger“ besonders für Afrika ins Leben gerufen. Doch die Zahl der Hungernden ist seither deutlich angestiegen, lange vor Corona.
Am deutlichsten stieg sie im Nahen Osten, etwa in Syrien und Afghanistan, in vielen Ländern des südlichen Afrika, aber auch in Lateinamerika von Venezuela bis Brasilien. Krieg und Vertreibung sind die wichtigsten Ursachen für akute Hungersnot. Corona hat die Lage in einigen Regionen verschärft, ebenso der Klimawandel. Doch Regierungs-Ignoranz gegenüber den Ärmsten im eigenen Lande ist die entscheidende Ursache für den strukturellen, den dauerhaften Hunger, der die gesunde Entwicklung von Kindern verhindert, anfällig für Krankheiten und arbeitsunfähig macht. Für einige dieser Regierungen ist der Hunger der eigenen Bevölkerung sogar eine Einnahmequelle: Nur gegen Geldzahlungen an Behörden dürfen ausländische Organisationen den Hungernden in ihrem Lande helfen. Dagegen wird Land, von dem Gemeinden sich seit jeher ernähren, in der Hauptstadt an Investoren verkauft und für Exportproduktionen freigemacht.
70% aller Hungernden leben auf dem Lande. Er betrifft deutlich mehr Frauen und Kinder als Männer. Die Verweigerung fundamentaler Menschenrechte für Frauen allein ist für mindestens ein Fünftel des Hungers auf der Welt verantwortlich. Sichere Land- und Wasserrechte und Zugang zu Wissen, einfachen Technologien, Saatgut und lokalen Märkten könnten für Hunderte Millionen Kleinbäuerinnen und ihre Männer den entscheidenden Unterschied machen.
Geändert hat sich in den vergangenen Jahren weniger das Handeln dagegen als die Rhetorik, die all diese Ursachen mittlerweile offen benennt ohne sie tatsächlich zu verändern. Verfeinert hat sich dagegen die statistische Aufbereitung dieses Skandals, etwa durch den soeben veröffentlichen Welthunger-Index der Welthungerhilfe. Deren Präsidentin Mahrlehn Thieme nennt 811 Millionen Unterernährten, 47 Millionen seien von akuter Hungersnot betroffen. Mehr dazu auf unserer Webseite zum Weltagrarbericht.
Der Welternährungstag ist ein Tag der Schande und des unnötigen Leids: Über 10% der Weltbevölkerung haben nicht genug zu essen, obwohl die globale Landwirtschaft selbst an Überproduktion leidet! 12 Milliarden Menschen könnten mit dem ernährt werden was sie jährlich produziert. Wir werfen mehr Lebensmittel weg als nötig wären um alle satt zu bekommen. In einigen Regionen der Welt ist diese Überproduktion der industriellen Landwirtschaft, die nur zum kleineren Teil Lebensmittel herstellt, zum größeren Teil Futtermittel, Energie, Sprit und industrielle Rohstoffe, sogar selbst die Ursache des Hungers. Kleinstbäuerinnen und –bauern, sogenannte Subsistenzlandwirtschaften und Indigene Gemeinden trifft der Hunger unvermittelt, wenn sie von ihrem Land vertrieben, ihrer demokratischen Rechte beraubt und von Wasser, Saatgut, einfacher Technik, Know How, Bildung und Märkten ferngehalten werden.
Doch die Unterernährung ist nur eine Seite des Versagens unserer Ernährungssysteme. Statistisch betrachtet sind Leben und Gesundheit von mehr Menschen heute durch Übergewicht bedroht, aber auch durch Fehlernährung und den Mangel an Mikronährstoffen wie Vitaminen und Mineralien.
Dass unsere Ernährungssysteme nicht funktionieren und immer gewaltigere Umweltschäden und sozialen Kahlschlag verursachen, beklagte vor einem Monat auch der „Food Systems Summit“ der Vereinten Nationen. Doch die Schlussfolgerungen des von der Agrarindustrie gekaperten Events spielen noch immer nach der alten Melodie: Innovation und Wachstum, die Steigerung der Produktion mit neuen Technologien sind die einzige Rettung.
Die Weltäcker in Basel, Bern und Vaduz sind am 18., 19. und 20. Oktober die Orte der diesjährigen Welternährungstags-Veranstaltungsreihe Gesunde, gerechte Ernährung für alle an der Sie auch online teilnehmen können.
Auf unserer Weltagrarberichts-Webseite finden Sie zu dem Thema alle Hintergrundinformationen.
P.S.
Gerd Müller, der sich trotz alledem als christsozialer Entwicklungsminister wacker und mutig geschlagen hat und mehr auf den Weg brachte als viele Vorgänger*innen, wünschen wir viel Erfolg in seinem neuen Job als Generaldirektor der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (Unido). Eine Fortführung seines kurz vor Schluss in der Koalition noch durchgepaukten Lieferkettengesetzes zum Schutz der Menschenrechte und sozialer Mindeststandards wäre ein riesiger Schritt voran!
P.P.S.
Filmempfehlungen des Human Rights Filmfestivals zum Thema Hunger